Reformationstag
Konfliktforscherin Deitelhoff: "Kirche muss helfen zu halten, wo es auseinandertreibt"
© EKHN01.11.2023 vr Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Die Leiterin des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung, Nicole Deitelhoff, hat die jüngsten Positionierungen der evangelischen Kirchen zum Ukrainekrieg und in dem Konflikt zu Israel begrüßt. Auch wenn die kirchlichen Aussagen nicht einheitlich gewesen seien, so seien sie „Spiegel der Gesellschaft, ihrer Ängste und Sorgen“ gewesen, sagte die Politologin beim Festakt der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) anlässlich des Reformationstags am Dienstagabend (31. Oktober) in Wiesbaden. Die Kirche spiegele eine gesellschaftliche Debatte wider, „in der viele Menschen sich fragen, ob und wie militärische Unterstützung der Ukraine angemessen ist“. Sie sorgten sich beispielsweise um die Gefahr einer nuklearen Eskalation oder um die Opfer des Krieges, sagte die Konfliktforscherin in der Wiesbadener Lutherkirche. Die Kirche müsse auf all diese Fragen „nicht die eine Antwort geben können, aber sie muss ein Reservoir von Gründen bewirtschaften, auf das die Gesellschaft zurückgreifen kann in ihrer Debatte.“
Deitelhoff: Kirche zeigt, wie Streit ausgehalten werden kann
Zugleich sei Kirche ein Vorbild dafür, wie „gesellschaftlicher Streit ausgehalten werden kann“. Deitelhoff: „Die Kirche demonstriert, wie wir uns trotz Meinungsverschiedenheiten, ja selbst trotz ethischer Differenzen dennoch auf Gemeinsames berufen können, dass wir einander auch dann respektieren können, wenn wir zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen.“ So habe die evangelische Kirche beispielsweise auch die russisch-orthodoxe Kirche und ihre Verstrickung in die russische Kriegspropaganda explizit verurteilt, aber dennoch die Kommunikation nicht abreißen lassen. So sei ein „Wieder-Anknüpfen“ möglich. Deitelhoff: „Wenn wir alle Verbindungen abreißen lassen, verlieren wir auch den Weg zurück zum Frieden.“
Rolle der Kirche in Konflikten bleibt wichtig
Auch im Konflikt in Israel sei die gesellschaftliche Rolle der Kirchen möglicherweise mehr gefragt als je zuvor, sagte die Politologin weiter. Der „moralische Rigorismus, der bereits die öffentlichen Debatten zum Russischen Angriffskrieg immer wieder durchzogen hat, zeigt sich im Gaza-Krieg umso erbarmungsloser“, so die Konfliktforscherin. Er scheide nur zwischen „richtig und falsch“. Zwischentöne blieben fremd. Dieser moralische Rigorismus gedeihe vor allem in Krisenzeiten, in denen Unsicherheiten zunähmen und Menschen dadurch immer weniger in der Lage seien, mit Ungewissheit umzugehen.
Deitelhoff: „Die Kirche muss darum auch noch mehr als je zuvor zeigen, dass es anders geht und die Gesprächsräume bereitstellen, in denen Menschen das geschützt erleben können, in denen sie ihre Unsicherheiten thematisieren können, ohne angegangen zu werden. Kirche muss helfen zu halten, wo es auseinandertreibt.“ Schließlich habe die Kirche auch noch die Roll, zu sorgen und zu trösten: „In dieser Situation braucht es die Kirchen, um zuzuhören und Trost zu spenden. Die Kirche tut das.“
Jung: Feiern in zerrissener Welt
Zuvor hatte der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung bereits das Thema Frieden in den Mittelpunkt seiner Predigt gestellt. Jung: „Wir feiern den Reformationstag 2023 inmitten einer zerrissenen, aufgewühlten und friedlosen Welt. Mit dem Blick auf das Evangelium, die Botschaft von der Liebe Gottes zu allen Menschen, verbinden wir die Bitte darum, dass Gottes Frieden Raum gewinnt unter uns – in unserem persönlichen Leben, in unseren Dörfern und Städten, in unseren Kirchen, in und unter den Religionen, in unserer Welt“. Jung ging auch auf die Situation in Israel ein und verurteilte den Angriff der Hamas als „entsetzlichen Terrorakt“ gegen die Menschen in Israel, „der durch nichts, aber auch wirklich gar nichts zu rechtfertigen“ sei. In diesen Situationen helfe ihm der Glaube daran, dass Gott die Welt nicht fallen lässt und die Hoffnung, dass Gottes Gerechtigkeit „schon hier wirksam werden kann in dieser Welt und Menschen auf den Weg des Friedens gebracht werden“. So sei das „Evangelium eine Kraft gegen die Verzweiflung“ und eine „Kraft zum Leben.“
Pfeiffer: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.
Nach Worten der Präses der EKHN, Birgit Pfeiffer, habe niemand geahnt, „welche dramatische und traurige Aktualität das Thema unserer Festrednerin Nicole Deitelhoff erhalten würde“. Krieg solle nach Gottes Willen nicht sein, so habe es der Ökumenische Rat der Kirchen in seiner Erklärung 1948 formuliert. Heute am Reformationstag suchten viele Menschen „nach Halt und Hoffnung in der Bibel und fragen, welche Leitlinien wir aus dem Leben und Wirken Jesu für die Herausforderungen unserer Zeit ableiten können“.
Zur Reformationsfeier 2023
Die Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) hatte in diesem Jahr das aktuelle Thema Krieg in den Mittelpunkt ihrer zentralen Reformationsfeier gestellt und Nicole Deitelhoff, Leiterin des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung eingeladen. Die Politikwissenschaftlerin leitet seit 2016 das Frankfurter Institut für Friedens- und Konfliktforschung. Vor allem seit Beginn des Ukrainekriegs ist sie eine gefragte Expertin und in vielen Fernsehsendungen wie etwa den „Tagesthemen“ oder in den Talk-Formaten „Anne Will“ und „Maybrit Illner“ zu sehen. Die Veranstaltung ist öffentlich. Die Liturgie gestalteten unter anderem Hessen-Nassaus Stellvertretende Kirchenpräsidentin Ulrike Scherf, Wiesbadens katholischer Stadtdekan Klaus Nebel sowie Pastorin Sabine Bockel von der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen. Für Musik sorgte die Jugendkantorei der Evangelischen Singakademie Wiesbaden unter der Leitung von Kantor Niklas Sikner.
Hintergrund zur Reformationsfeier
Am 31. Oktober erinnern Protestantinnen und Protestanten in aller Welt an den Beginn der Reformation durch Martin Luther im Jahr 1517 und die Entstehung der evangelischen Kirche. Zum 29. Mal veranstaltet die EKHN einen Festakt am Reformationstag. Bei der Feier blickt eine bekannte Persönlichkeit mit ihrer besonderen Sicht auf das evangelische Profil in der Gesellschaft. Bislang zählten unter anderem der frühere DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière, die ZDF-Moderatorin Gundula Gause oder der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, zu den Gästen.
Diese Seite:Download PDFTeilenDrucken